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Medizinische Dachorganisation der Fachgesellschaften redet Interessenkonflikte klein

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und ihre Mitgliedsorganisationen nehmen wichtige Aufgaben war. Sie erstellen Behandlungsleitlinien und stellen bei Anhörungen zu neuen Arzneimitteln im Gemeinsamen Bundesausschuss die meisten ExpertInnen. Die AWMF hat kürzlich gleich zwei Papiere verfasst, die eine kritische Auseinandersetzung mit kommerziellen Interessen in der Medizin in Frage stellen.

Dabei hatte die AWMF erst 2018 relativ strenge Regeln zum Umgang mit Interessenkonflikten bei der Erstellung von Leitlinien verabschiedet.[1] Doch was für Leitlinien gilt, soll bei Kongressen und Fortbildungen keine wesentliche Rolle spielen.

Im November 2021 veröffentlichte die AWMF das Papier Die Kooperation Medizinischer Wissenschaften und Industrie, in dem völlig undifferenziert von „natürlichen und notwendigen Kooperationsformen“ gesprochen und die Behauptung aufgestellt wird: „Im Vordergrund jeder Kooperation stehen das Wohl des Patienten sowie die Qualitätssicherung und Verbesserung der medizinischen Versorgung.“[2] Die Firmen müssten wegen ihrer speziellen Kenntnisse „Ärzte beim Einsatz ihrer Produkte unterstützen und begleiten.“

Kongresse, Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen böten die Möglichkeit eines besonders umfassenden Erkenntnis- und Erfahrungsaustauschs zwischen allen Beteiligten, schreibt die AWMF. „Hier können neue Produkte und Verfahren präsentiert, Erkenntnisse aus der Patientenbehandlung geteilt und neue diagnostische und therapeutische Konzepte diskutiert werden.“ Kein Wort davon, dass vielleicht unterschiedliche Interessen existieren könnten und alle diese Veranstaltungsformate ein Einfallstor für das Pharmamarketing sind. Es klingt geradezu naiv, wenn behauptet wird, man könne „wissenschaftliche Diskurse [mit der Industrie] frei von merkantilen Gesichtspunkten“ halten.

Und weiter: „In vertraglichen Austauschverhältnissen zwischen Wissenschaft und Industrie, wie etwa bei der Bereitstellung von Werbeflächen auf einem Kongress, muss dafür Sorge getragen werden, dass die wechselseitigen Leistungen ‚äquivalent‘, d.h. gleichwertig sind. Nur so kann dem möglichen Vorwurf einer unlauteren Beeinflussung wirksam begegnet werden.“ Werbung ist also erst dann Beeinflussung, wenn die Firmen zu hohe Preise für die Standflächen zahlen müssen? Und was „lautere“ Beeinflussung sein soll, das weiß wahrscheinlich nicht einmal die AWMF selbst.

Wo das eigentliche Problem liegt, steht an anderer Stelle in dem Papier: „Kritiker verkennen dabei, dass Kongresse und ähnliche Veranstaltungen für einen wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch und ohne finanzielle Unterstützung Dritter nicht in dem notwendigen Maße umsetzbar wären.“ Wer weiter luxuriöse Kongresse veranstalten will, kommt ohne Pharmasponsoring nicht aus. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) beweist, dass es auch anders geht, sie veranstaltet seit Jahren ihre Tagungen ohne Firmenunterstützung.

Die AWMF steuert genau in die entgegengesetzte Richtung: „Medizinische Wissenschaften und Industrie benötigen zudem eine gemeinsame überregionale und überparteiliche Plattform, um den notwendigen aktuellen Wissenstransfer organisatorisch und strukturell auf Dauer zu gewährleisten. […] Die AWMF strebt daher die Errichtung einer solchen Plattform unter dem Namen ‚Deutsche Medizinische Forschung‘ an.“

Die Industrie will nicht nur einen Fuß in der Tür des Dachverbandes der wissenschaftlichen Fachgesellschaften haben, sondern möchte sich selbst zum institutionell integrierten Gesprächspartner machen. Es handelt sich faktisch um eine feindliche Übernahme. Die Industrie möchte den Medizinbetrieb weiter ungestört beeinflussen können und nicht durch lästige Debatten über Interessenkonflikte gebremst werden.

Der wissenschaftliche Austausch, der angeblich sonst gefährdet sei (warum, das wird nirgends erklärt), ist ein bloßer Vorwand. Denn das Papier beschäftigt sich ausschließlich damit, die Einflussnahme der Industrie auf Kongressen und Fortbildungen zu rechtfertigen.

Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch ein zweites Papier, das die AWMF im Februar 2022 nachschob.[3] Es soll „zur Qualitätssicherung wissenschaftlich basierter Fortbildungen und Transparenz möglicher Interessenkonflikte sowie Sicherung einer von Sponsoren unabhängigen Durchführung von Kongressen“ dienen. Nachdem pflichtschuldig die gesetzlichen Rahmenbedingungen zitiert werden, „[es ist] erforderlich, dass Fortbildungsinhalte frei von wirtschaftlichen Interessen sind (SGB-V)“, geht es in die Vollen. Es käme darauf an, dass „entstehende wirtschaftliche Interessenkonflikte der Veranstaltenden und deren Organisationen transparent und deutlich sichtbar dargestellt und dokumentiert werden.“ Mit anderen Worten: Letztlich ist es der AWMF egal, ob die Vortragenden auf der Zuwendungsliste der Pharmaindustrie stehen. Es reicht aus, wenn man darauf hinweist. Dabei ist vielfach nachgewiesen, dass ProfessorInnen und andere AkademikerInnen, die von den Firmen engagiert werden, ihre Zuhörerschaft erfolgreich beeinflussen können. Für solche Personen gibt es im Pharmasprech einen eigenen Ausdruck: Key Opinion Leader. Einflussreiche Ärztinnen und Ärzte werden von den Firmen gezielt gesucht und aufgebaut.

Auch was die inhaltliche Gestaltung des wissenschaftlichen Programmes sowie die Organisation von Industrie-Ausstellungen bei Tagungen angeht, bleibt das zweite Papier schwammig. Interessenkonflikte müssten „transparent dargestellt und möglichst [Hervorhebung durch den Autor] vermieden werden.“, heißt es. Was folgt, klingt dann wie ein von der Industrie bezahlter Werbeblock: „Umfassende Ausstellungen im Rahmen von wissenschaftlichen Kongressen bieten den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich direkt über aktuelle Entwicklungen von Medizinprodukten oder Arzneimitteln der forschenden Industrie zu informieren. Sie liefern dadurch wertvolle Ergänzungen zum wissenschaftlichen Vortragsangebot, indem sie Diskussionsmöglichkeiten zwischen Medizinern und Herstellern bieten, die der Exploration von Kooperationen, der Entwicklung von innovativen Produkten oder der Anbahnung von wissenschaftlichen Studien dienen können.“

Dabei verschaffen gerade die Ausstellungsbereiche bei Tagungen, wo gerne auch für das leibliche Wohl gesorgt wird, der Industrie den unkomplizierten Zugang zu ÄrztInnen, die sich eigentlich wissenschaftlich informieren wollen. Vollends unglaubwürdig macht sich die AWMF mit der Tolerierung von Industriesymposien auf ihren Kongressen, wo die Industrie ungefiltert Meinungsmache betreiben kann. Eine von Leitlinienwatch, MEZIS und Transparency International am 2.3.2022 formulierte Kritik zum AWMF-Papier bringt es auf den Punkt: „Den Fachgesellschaften wird die Überlassung der Räumlichkeiten teuer vergütet, mit bis zu 40.000 € für zwei Stunden – bei Selbstkosten für Saal und Technik von maximal 4.000 €. Hier wird das Äquivalenzprinzip eklatant verletzt. Die Fachgesellschaft verkauft nicht den Saal, sondern den Zugang zu den ärztlichen Köpfen, die nirgendwo so konzentriert versammelt sind wie beim Jahreskongress.“ [4]

Auch die „Anbahnung von wissenschaftlichen Studien“ ist keineswegs so harmlos wie das die AWMF darstellt. Leitlinienwatch sagt dazu: „Unproblematisch ist die Kooperation bei klinischen Studien jedoch nicht: Denn nach wie vor entwerfen die Firmen selbst die Studienpläne für ihre Produkte, verantworten die statistische Auswertung und den Publikationsprozess und können dadurch die Ergebnisse und deren Kommunikation beeinflussen. Die beteiligten Ärzt*innen haben dagegen auf das Studiendesign in aller Regel keinen Einfluss. Wie alle Wissenschaftler*innen neigen Studienärzt*innen dazu, sich mit ihrem Projekt zu identifizieren, das in diesem Fall ein kommerzielles Produkt ist. Hier hilft das Trennungsprinzip: Wer an Therapiestudien mitgewirkt hat, sollte nicht später an der Medikamentenbewertung beteiligt sein.“  (JS)

Artikel aus dem Pharma-Brief 3/2022, S. 4
Bild © PeopleImages/iStock

[1] Kopp I et al. (2018) Management von Interessenkonflikten in Leitlinien, in: Interessenkonflikte, Korruption und Compliance im Gesundheitswesen, in: Lieb K et al. (Hrsg.), Berlin, S. 177-185

[2] AWMF (2021) Die Kooperation Medizinischer Wissenschaften und Industrie. November www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Resolution_Forderungen/202111_Papier_Industrie-Kooperation.pdf [Zugriff 4.4.2022]

[3] AWMF (2022) Positionspapier der AWMF zur Qualitätssicherung wissenschaftlich basierter Fortbildungen und Transparenz möglicher Interessenkonflikte sowie Sicherung einer von Sponsoren unabhängigen Durchführung von Kongressen. Februar www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Resolution_Forderungen/202202_AWMF_Papier_Sponsoring_final.pdf [Zugriff 4.4.2022]

[4] https://mezis.de/stellungnahme-mezis-llw-ti-de-deutsche-medizinische-fachgesellschaften-verharmlosen-interessenkonflikte [Zugriff 4.4.2022]