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Was ist Wohlstand? Und wie messen wir den Wert, den unsere Wirtschaft hervorbringt? Für die britische Ökonomin Mariana Mazzucato sind das grundlegende Fragen für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft. In ihrem neusten Buch fordert sie deshalb eine Debatte über unser Verständnis von Wirtschaftswachstum – auch am Beispiel der Pharmaindustrie.

Das Buch beginnt mit einem Gang durch die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften. Die Autorin verdeutlicht dabei, wie die Wirtschaftstheoretiker sich über Jahrhunderte mit der Frage auseinandersetzen, was denn eigentlich „Wert“ bedeutet und was „Wohlstand“ schafft.

Sie beginnt mit der im 16. Jahrhundert entstandenen Theorie des Merkantilismus, der den Handel in den Mittelpunkt stellte, über die Physiokratie mit Grund und Boden als Quelle des Reichtums, bis zur klassischen Ökonomie mit dem Fokus auf Arbeitskraft.

Casino-Kapitalismus

Aktuell wichtige Messgröße für die Stärke eines Wirtschaftsraums ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Auch hier hat sich die Definition im Lauf der letzten Jahrzehnte verändert. Erst in den 1970er Jahren wurde der Finanzsektor in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einbezogen. Mit Aufkommen des Casino-Kapitalismus verschwammen die Grenzen zwischen Handelsbanken (primäre Aufgabe: Geld bereitstellen) und Investmentbanken (primäres Ziel: Gewinnmaximierung). Gleichzeitig begann die Deregulierung der globalen Finanzmärkte. Infolge hat sich in den USA zwischen 1975 und 2015 das BIP ver­drei­facht und die Produktivität ist um 60% gestiegen. Die Reallöhne dagegen stagnierten oder sanken sogar.

Gleichzeitig hat sich die Schere zwischen arm und reich global noch weiter geöffnet: Der Besitz der 62 reichsten Menschen ist um 45% gewachsen, das Vermögen der unteren Hälfte der Weltbevölkerung um 38% gesunken.

Nach der heute gängigen Definition des BIP hat zwar die moderne Finanz­industrie enorme Werte geschaffen, gesamtgesellschaftlich jedoch keinen Wohlstand erzeugt. Das festzuhalten ist Mazzucato wichtig, denn „Wirtschaftswissenschaft ist im Kern eine Sozialwissenschaft“.

Pharmaindustrie

Neben der Finanzindustrie unterzieht die Autorin auch die Pharmaindustrie einer kritischen Prüfung. Aufhänger ist das Hepatitis-Medikament Harvoni ® (Sofosbuvir). Der Anbieter Gilead wurde wegen der hohen Preise stark kritisiert. Die Firma argumentiert mit einem “value-based pricing”: Das Medikament rette Leben und helfe, an anderer Stelle Kosten einzusparen. Dieser Wert rechtfertige den hohen Preis.

Mazzucato widerlegt diese Argumentation damit, dass nachgewie­senermaßen bei Medikamenten kein Zusammenhang zwischen Preis und therapeutischem Nutzen besteht. Zudem macht sie deutlich, dass Pharma­unternehmen das Konzept des value-based pricing ins Gegenteil verkehrt haben – es wurde nämlich ursprünglich in Großbritannien am NICE dazu entwickelt, das öffentliche Gesundheitsbudget sinnvoll einzusetzen und Kosten zu sparen.

Ebenso interessant sind Parallelen zur Entwicklung der Finanzindustrie. Die moderne biopharmazeutische Industrie geht auf umfangreiche Anschubfinanzierung der Grundlagenforschung durch die staatlichen US-amerikanischen National Institutes of Health zurück. Die darauf folgenden Firmengründungen gehen einher mit der Entstehung einer Risikokapital-Industrie, die enorme Börsenwerte erzeugt hat, obwohl nur wenige Biopharma-Firmen wirklich erfolgreich Produkte auf den Markt bringen konnten. Mazuccato sieht auch hier den Finanzmarkt als Hauptgewinner.

Staat muss steuern

Aus ihrer umfangreichen Analyse verschiedener Industriezweige leitet die Ökonomin verschiedene Maßnahmen ab, wie staatliches Eingreifen aussehen kann, etwa eine Finanztransaktionssteuer oder Beschränkungen beim Aktienrückkauf als Mittel der Steuervermeidung.

Diskussionswürdig ist der Vorschlag, staatliche Investmentbanken zu gründen, die sich klar definierten Zielen widmen (“mission oriented”). Als Vorbild nennt Mazzucato die Mond-Mission, die nicht das Ziel hatte, einen bestimmten Wirtschaftssektor zu unterstützen, sondern eben das Ziel, den Mond zu erreichen. Solche Ziele z.B. im Bereich Gesundheit könnten von öffentlichen und privaten Akteuren gemeinsam erreicht werden mit Hilfe von zielgerichteten, langfristigen Risikoübernahmen – unter der Bedingung, dass beispielsweise Arzneimittelpreise die Risikoverteilung zwischen privat und öffentlich reflektieren. Mazzucato will mit ihrem Buch eine Debatte über die Frage anstoßen, welche Art von Wachstum wir wollen. Dabei solle es nicht um die Wachstumsrate gehen, sondern um die Wachstumsrichtung. Dazu kann dieses anschaulich geschriebene Buch einen wichtigen Beitrag leisten – auch wenn ihre Lösungsansätze wie beim Beispiel Pharma noch nicht konsequent ausgearbeitet sind.

Artikel aus dem Pharma-Brief 4-5/2018, S. 6
Bild: Cover von Mazzucato M (2018) The value of everything. Making and taking in the global economy. London: Allen Lane, 364 S., 15,99 £