Bild Covid 19 von Flick


„Nicht auf die Gutwilligkeit der Industrie setzen“

Das Ringen zwischen Pharmaindustrie und Industriestaaten, den Ländern des Südens und der Weltgesundheitsorganisation ist in vollem Gange. Anne Jung von medico international sprach darüber mit Jörg Schaaber von der BUKO Pharma-Kampagne.

Anne Jung: Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass die Entwicklung eines Impfstoffes sowie die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung von Covid-19 ein Weltinteresse darstellen. Und dass der Zugang zu wirksamen und sicheren Impfstoffen ein ganz wichtiger Beitrag zum Menschenrecht auf den bestmöglichen Zugang zu Gesundheit sein wird. Wenn Milliarden von Steuergeldern weltweit auch an die Pharmaindustrie gegeben werden, mit dem Auftrag einen Impfstoff zu entwickeln, was passiert dann, wenn ein Impfstoff da ist? Wem gehört er, wie wird er verteilt? Und wer bekommt ihn zuerst?

Ja, das ist die entscheidende Frage. Vielleicht sollte man damit einsteigen, dass die Fakten eine andere Sprache sprechen als der Schönsprech von Big Pharma und Politik, dass alle etwas bekommen würden. Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat ermittelt, dass sich die Industrieländer bereits über die Hälfte aller Impfdosen die jetzt potenziell auf den Markt kommen, gesichert haben. Also das heißt, 13 Prozent der Weltbevölkerung haben sich schon den Zugriff auf über die Hälfte aller potenziell in den nächsten Jahren verfügbaren Impfdosen gesichert. Daran sieht man schon, dass das Bild vom Zugang für alle nicht stimmt. Als Erste haben die USA damit angefangen, sich Optionen auf Impfdosen zu sichern. Die Europäische Union hat dann mit kräftiger Beteiligung von Deutschland nachgezogen.

Es gab ja viele Beteuerungen, einen Impfstoff als „globales öffentliches Gut“ zu betrachten? Wird das auch in die Tat umgesetzt?

Nein, im Gegenteil. Stattdessen ist ein Modell gewählt worden, in dem Staaten über Direktverhandlungen mit den Herstellern im großen Stil Impfdosen aufkaufen oder Abnahmeversprechen geben. Das sind Politikkonzepte, die kritikwürdig sind, weil es so nicht zu einer gerechten globalen Versorgung kommen kann. Die Rolle der Bundesregierung ist sehr zwiespältig. Einerseits betont sie, dass Impfstoffe öffentliches Gut seien und jedem zur Verfügung stehen müssen, andererseits wird aber auf die Gutwilligkeit der Industrie gesetzt, mit der undurchsichtige Deals abgeschlossen werden. Es reicht nicht, wenn die Industrieländer sagen: Ok, wir geben auch zusätzlich ein paar Millionen dafür, dass noch Impfstoffe für ärmere Länder besorgt werden. Das ist dann ein Tropfen auf den heißen Stein und hat nichts mit fairer und gerechter Verteilung zu tun.

Ist dir etwas bekannt darüber, wie die Verträge zwischen Regierung und Pharmaindustrie ausgestaltet wurden, was den Preis des zukünftigen Impf­stoffs anbelangt?

Also da ist bislang wenig durchgesickert, das ist relativ intransparent. Bekannt geworden ist, dass die EU zum Beispiel mit Sanofi einen Vertrag abgeschlossen hat, demzufolge eine Impfdosis 10 Euro kostet. Und etwas später mit AstraZeneca, wo die Impfdosis 2,50 Euro kostet. Da fragt man sich schon, wie dieser Unterschied zustande kommt. Die einzige Erklärung, die die Kommission dazu geliefert hat, ist, dass mit AstraZeneca eine andere Haftungsregelung vereinbart worden ist. Haftung bedeutet in diesem Falle, falls doch Impfschäden auftreten, die man nicht vorher abgesehen hat, würde die Firma nur bis zu einer bestimmten Summe haften. Das sind dann versteckte Kosten. Aber die Kommission hat sich geweigert, Details preiszugeben. Kürzlich hat das EU-Parlament wegen dieser intransparenten Verhandlungen gedroht, den EU-Haushalt für 2021 zu blockieren, wenn die Kommission nicht die Konditionen für diese Deals mit der Pharmaindustrie offen legen würde. Dahinter steht die Sorge des Parlaments, dass die Impfstoffe global unfair verteilt werden.

Und wie sieht es mit den Pro­duk­tions­bedingungen aus? Bevor ein Impf­stoff verteilt werden kann, muss er ja schließlich produziert werden. Es heißt, auch deswegen sei man auf die großen Unternehmen angewiesen.

Ein Argument ist, dass bei den Impfstoffen das Problem nicht die Patente seien, weil zum Beispiel der Bau einer Fabrik, in der Impfstoffe hergestellt werden können, Jahre dauern würde. Deshalb sei man auf die etablierten Hersteller angewiesen. Das mag zum Teil stimmen, aber wenn man zum Beispiel sieht, dass das Serum Institute of India einer der größeren Hersteller ist, der jetzt Aufträge bekommt, um den Oxford University/AstraZeneca-Impfstoff herzustellen, merkt man, dass es so einfach nicht ist. Auf Grund neuer Wirkprinzipien der Impfstoffe sind teils ganz andere Fabriken zur Herstellung erforderlich. Da weiß man gar nicht, ob das wirklich so schwierig aufzubauen ist oder ob solche Kapazitäten nicht auch im globalen Süden existieren.

Wie sähe denn hier eine andere Herangehensweise aus?

Wenn das Argument stimmt, dass es nicht so einfach ist, bestimmte Impfstoffe herzustellen, wird der Technologietransfer doch umso wichtiger. Genau das hat die WHO gefordert und dem verweigert sich die Bundesregierung. Und das finde ich besonders schade, da Deutschland als großer Geldgeber eben auch in der Forschungsförderung Maßstäbe hätte setzen können. Wenn man Geld in die Forschung und eben auch an Privatunternehmen gibt, dann sollte man – und das kritisieren wir und andere schon seit Jahren – klare Regeln dafür setzen, was den Preis der mit dieser Forschung entwickelten Produkte angeht. Genau das passiert eben nicht. Da hört man dann z.B. alle möglichen windigen Argumente, dass die Firmen das nicht mitmachen würden. Ich glaube, dass es dafür einfach am politischen Willen mangelt – es bleibt ein Schonprogramm für Big Pharma.

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Welche Aufgaben übernimmt denn im Falle der Impfstoffentwicklung der Staat und welche Rolle hat die Pharma­industrie?

Ich glaube, dass Public Private Partnerships (PPP), denn um so etwas handelt es sich ja, also dass der öffentliche Sektor mit privaten Akteur*innen zusammenarbeitet, keine gute Lösung für regionale oder gar globale Gesundheitsprobleme sind. Das ist bestenfalls der zweit- oder drittbeste Weg. Warum sind PPP so problematisch? Was eigentlich in demokratisch gewählten Gremien oder Institutionen entschieden werden sollte, wird in einen Raum verschoben, wo andere mitreden und mitentscheiden können. Und das allein aufgrund ihrer finanziellen Stärke. In diesem Falle nicht nur die Gates Stiftung oder auch die Welcome Foundation, sondern gleich die Pharmaindustrie selbst.

Teilweise bekommt man aber ja doch den Eindruck, dass die Pharma­industrie etwas dazu gelernt hat und alte Fehler nicht wiederholt. Kürzlich haben sogar die CEOs aller großen Pharma­unternehmen gemeinsam mit der Bill und Melinda Gates Stiftung eine Stellungname veröffentlicht, in der sie Zusagen für einen erweiterten weltweiten Zugang zu Covid-19-Diagnostika, -Therapeutika und -Impfstoffen gemacht haben. Im Brief heißt es: „Die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 können nur durch das kollektive Handeln von Interessen­gruppen aus dem privaten, öffentlichen und philanthropischen Sektor in Partnerschaft mit der Zivil­gesellschaft angegangen werden.“

Man kann diese Erklärung auch anders interpretieren. Nämlich als den Versuch, die Deutungshoheit zurück zu gewinnen. Denn was ist passiert? Im Mai ist auf der Weltgesundheitsversammlung der WHO mit Zustimmung aller Staaten dieser Welt beschlossen worden, dass Impfstoffe, wenn sie denn entwickelt sind, ein globales öffentliches Gut sein sollen. Das hat Bundeskanzlerin Merkel ausdrücklich betont; auch dass alle Menschen Zugang zu diesen Impfstoffen haben müssen. Ich glaube, die Pharmaindustrie war nur mäßig begeistert, als sie das gehört hat. Das kann man an Reaktionen des deutschen Pharmaindustrieverbands sehen, der ganz explizit auf die Äußerungen von Kanzlerin Merkel geantwortet hat, auf Patentrechte zu verzichten und diese freizugeben könne ja wohl nicht die Lösung sein. Das ist ja eine Blockadehaltung. Die kommt nicht so gut in der Öffentlichkeit an und so kann man die Äußerungen, die Bill Gates den Firmen abgerungen hat, auch als eine Zurückgewinnung des öffentlichen Diskurses begreifen. 

Die WHO geht mit ihren Forderungen nach einem offenen Patentpool weiter als die Regierungen Europas. Wie erklärst du das? Und wie schätzt du die Situation der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ein? Spricht sie nur vom Multilateralismus und setzt dann letztendlich doch auf die Strategie eines nationalen Kurses?

Ich sehe da wirklich eine zwiespältige Haltung der Bundesregierung, die einerseits sagt, es sei wichtig, die WHO zu stärken und ihr mehr Geld zu geben, damit sie ihre Aufgaben überhaupt erfüllen kann. Das muss man positiv vermerken. Aber den zweiten Schritt, der WHO dann auch Kompetenzen zu übergeben, damit tut sich die Bundesregierung offensichtlich schwerer. Noch vor der Weltgesundheitsversammlung im Mai gab es zwei Vorschläge, die erstmal nebeneinander standen: Einen von den Ländern des Südens eingebrachten Vorschlag unter Führung von Costa Rica, einen Patentpool einzurichten für Covid-19-Produkte. Und zusätzlich, als neues Element, den Technologie- und Wissenstransfer dafür zu organisieren. Das ist im Prinzip auch das, was auf der Weltgesundheitsversammlung beschlossen wurde. Parallel dazu gab es – ebenfalls schon vor der Weltgesundheitsversammlung – die vor allem von Industrieländern vorangetriebene Initiative, Geld zu sammeln. Dabei haben die Gates und die Welcome Stiftung eine große Rolle gespielt. Aber es wird nicht nur Geld gesammelt, sondern man will auch mitreden, wie es ausgegeben wird. Das sind konkurrierende Konzepte. Und das Interessante ist ja, dass der Patentpool bei der WHO leider auch nur eine freiwillige Angelegenheit und auf die Zuarbeit der Staaten angewiesen wäre. Gegenwärtig unterstützen etwa 40 Länder den Patentpool. Deutschland gehört nicht dazu.

Wieso geht denn der Prozess der Entwicklung eines Impfstoffs eigentlich derzeit so schnell? Ist das nicht auch ein Verdienst der Pharmaindustrie?

Nein, ganz im Gegenteil. Das Interesse an den Impfstoffen ist bei der Industrie erst Anfang dieses Jahres erwacht, als die Epidemie angefangen hat. Da wurde das Thema dann plötzlich für die Industrie interessant. Plötzlich lockt ein riesiger Markt. Vor ein paar Jahren war das noch anders. Covid-19 ist ja nicht das erste gefährliche Corona-Virus. Es gab ja bereits Sars und Mers, die beide relativ gefährlich waren, sich aber zum Glück nicht so stark weltweit verbreitet haben. 2017 hat die EU-Kommission der Pharmaindustrie vorgeschlagen, für ein gemeinsames Projekt Geld zu geben, um Musterimpfstoffe gegen Corona zu entwickeln. Damals hat der europäische Pharmaindustrie-Verband abgelehnt, obwohl alles Geld von der EU, also den Steuerzahler*innen gekommen wäre. Und warum jetzt überhaupt so schnell Impfstoffe entwickelt werden können, das hat natürlich auch viel mit den öffentlichen Vorleistungen zu tun. Wenn überhaupt vorher an Corona-Impfstoffen geforscht wurde, also vor Beginn diesen Jahres, dann ist das weitgehend im öffentlichen Sektor geschehen, an Universitäten oder anderen staatlichen Forschungsinstituten. Außerdem gibt es auch noch CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations), ein Programm im Rahmen der WHO, von dem wahrscheinlich noch nicht viele gehört haben. Im Zusammenhang mit der Ebola-Krise wurde erkannt, dass man vorbeugen muss: Wenn solche neuen Pandemien auftreten, dann wollen wir auch vorher geforscht haben und vorbereitet sein. Die von CEPI geförderte Corona-Forschung hat mit dazu beigetragen, dass es überhaupt Impfstoffkandidaten gibt, die jetzt relativ weit entwickelt sind, sodass schnell klinische Studien beginnen konnten.

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Jetzt haben wir als medico international zusammen mit euch, der BUKO Pharma-Kampagne und anderen internationalen Akteur*innen wie dem People‘s Health Movement den Aufruf „Patente Töten“ veröffentlicht. Wie optimistisch bist du denn in der jetzigen politischen Situation, dass sich solche grundlegenden Forderungen durchsetzen lassen? Immerhin sprechen ja doch mehr Menschen als je zuvor über diese Themen, die vorher eher ein Nischendasein hatten.

Es sind zwei Entwicklungen, die ich wichtig finde. Zum einen, dass jetzt zum ersten Mal politische Führer*innen sagen, dass Medikamente und Impfstoffe ein öffentliches Gut sind. Das hätte man vor ein paar Jahren nicht erwarten können. Der zweite Schritt, das dann auch umzusetzen, ist natürlich noch ein weiter Weg. Aber auf der allgemeinen Ebene wird in dieser Krise Fairness und Zugang zu einem wichtigen Thema. Auch wenn wir in Deutschland noch in einer sehr privilegierten Position sind und der Staat auch teurere Impfstoffe bezahlen kann, ist vielen klar geworden, dass das eine globale Frage ist. Es wird so deutlich wie lange nicht, dass der Zugang zu Gesundheitsprodukten öffentlich geregelt sein muss und Privatinteressen nicht verhindern dürfen, dass Menschen das bekommen, was sie benötigen.

Und ich würde auch gerne nochmal daran erinnern, dass wir lange diskutiert haben, wie wir den Aufruf nennen sollen. Denn „Patente töten“ klingt ja erstmal krass. Aber genau das ist die traurige Wahrheit. Ungefähr 10 Millionen HIV-Positive sind unnötig gestorben, weil die Industrie über Jahre mit allen Möglichkeiten bekämpft hat, dass der Zugang für ärmere Länder zu HIV-Medikamenten möglich wird. Und das droht sich nun fortzusetzen.

Was muss jetzt passieren?

Mir kommt in den Sinn, was die Chefin von UNAIDS, Winnie Byanyima, gesagt hat, als die Pharmaindus­trie gegen die Forderung der Weltgesundheitsorganisation, der Impfstoff müsse ein öffentliches Gut werden, Sturm gelaufen ist. Sie hat gesagt: „Wir sollten nicht wiederholen, was bei der AIDS-Krise in der Welt geschehen ist. Wir haben zehn Jahre verloren und Millionen HIV-Positive sind gestorben, weil wir auf Zugeständnisse der Pharma­industrie gewartet haben.“

Artikel aus Pharma-Brief 8-9/2020, S. 6

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